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100 Blindenführhund auf wdr.de

19.09.2016

100 Jahre Blindenhunde: "Er ersetzt mir die Augen"

Von Katja Goebel

Lester ist gerade außer Dienst. Lang hingestreckt liegt der schwarze Labrador im Wohnungsflur auf einem dicken Kissen. Der neunjährige Rüde döst. Den Besucher hat er gerade freundlich an der Tür empfangen, doch dann ist er gleich wieder auf seinen Platz zurückgetrottet. Jetzt hat er die Augen fest geschlossen. Das kann sich allerdings blitzartig ändern. Nimmt Besitzerin Sabine Bremenkamp sein weißes Geschirr vom Garderobenhaken, ist Lester sofort hellwach und im Dienst. Bereit für den Außeneinsatz.

Helfer auf vier Pfoten

Lester ist ein Blindenführhund. Er hat als junger Hund eine umfassende Ausbildung absolviert und zog dann bei Sabine Bremenkamp in Duisburg ein. Die 45-Jährige ist seit ihrer Jugend blind. "Lester ersetzt mir die Augen", erklärt sie. Doch nicht nur das. Er ist Gefährte, Beschützer und Familienmitglied. "Ein Engel auf vier Pfoten", sagt Sabine und kann sich einen Alltag ohne den Hund gar nicht mehr vorstellen. "Ich verbringe ja mehr Zeit mit Lester als mit meinem Mann." Sabine arbeitet als Physiotherapeutin im Krankenhaus. Lester begleitet sie jeden Tag zur Arbeit.

Hund an einer Straße

Lester hat den Straßenverkehr immer im Blick

"Such Ampel" heißt meist das erste Kommando draußen vor dem Haus. Lester läuft los und bleibt am Ampeldrücker stehen. Der Rüde findet auf Ansage mühelos Bushaltestellen, Büchereien, Fahrstühle oder den Eingang zum Kaufhaus. Auch im Bus zeigt er Frauchen eifrig einen freien Platz. "Meist ganz hinten." Da hat er seinen eigenen Kopf. Wenn Lester allerdings den Gehorsam verweigert, dann stimmt etwas nicht. So bleibt er vor Rolltreppen oder Bahnsteigkanten grundsätzlich stehen und bewegt sich keinen Millimeter mehr nach vorn. Das hat er so gelernt.

Stehen bleiben heißt "Achtung"

Doch auch, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, kann der Hund schon mal abrupt stoppen. Dann greift Sabine zum Stock und fühlt, was los ist. Bei ihren Runden an den Rheinwiesen zum Beispiel. Da war eines Tages ein Schiff so verankert, dass das Tau quer über den Weg hing. Lester wäre mit Leichtigkeit darunter her spaziert, aber Sabine nicht. Der Rüde blieb wie angewurzelt stehen - obwohl ihm das niemand beigebracht hatte.

Hund liegt auf einer Wiese

In der Ruhe liegt die Kraft: Lester wartet auf das nächste Kommando

Allerdings weiß Lester auch genau, wann er Freizeit hat. Dann darf er auf der Wiese toben und einfach nur Hund sein. Quatscht Frauchen zu lange mit anderen, dreht er gerne seine eigenen Runden. Dann muss Sabine ihn auch schon mal beim nächsten Grillrost einholen. "Ein Labrador eben." Die sind verdammt verfressen soll das heißen.

Nicht anfassen, nicht ansprechen

Ist Lester außer Dienst, trägt er kein Geschirr, sondern nur ein Lätzchen in Warnfarben. Das muss sein. Alle sollen schließlich sehen, dass dies kein gewöhnlicher Hund ist. "Der darf überall laufen." Bei Blindenführhunden gibt es Regeln für Mitmenschen zu beachten: Am besten nicht ansprechen und nicht anfassen - das könnte den Hund ablenken. Dafür wird Sabine Bremenkamp umso häufiger angesprochen. Der Hund sei ein richtiger Türöffner - gerade weil Menschen oft Hemmungen hätten, Behinderte anzusprechen.

Ein Hund für 20.000 Euro

In Deutschland gibt es kein Blindenregister. Der Berufsverband der Augenärzte hat die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2002 einmal auf Deutschland hochgerechnet. Danach lebten in Deutschland rund 164.000 blinde Menschen.

Blindenhund

Ein teures Hilfsmittel: Der Blindenführhund

Auch Blindenhunde werden nicht gezählt. Die werden laut des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands zwar von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert, aber nicht gesondert ausgewiesen. Dort sind sie einfach nur Teil des großen Topfes der "Hilfsmittel". Schätzungen gehen von 1.800 bis 3.000 Tieren aus. Die Ausbildung ist teuer. 20.000 Euro kann so ein Blindenführhund kosten und auch nicht jeder Blinde hat Anspruch auf einen Hund. Die Tiere werden in speziellen Hundeschulen ausgebildet, bevor sie vermittelt werden. Dabei eignet sich nicht jeder Hund für den Job. Die Tiere müssen vor allem groß genug, nervenstark, friedfertig und wesensfest sein. Auch ein ausgesprochener Jagdtrieb wäre ein Hindernis.

"Lester bleibt"

Sabine Bremenkamp hat sich damals extra für einen Labrador entschieden. Eine Rasse, die viele Mitmenschen als besonders freundlich kennen. "Und Lester hütet nicht. Das ist wichtig, weil ich den ganzen Tag mit Patienten zu tun habe und der Hund immer dabei ist." Und was passiert mit Lester, wenn er zu alt zum Führen ist? "Dann bleibt er trotzdem bei mir", sagt Sabine Bremenkamp. "Den kann ich doch nicht mehr abgeben."

Die Erfolgsgeschichte der Blindenführhunde

Mann auf einem Stuhl, daneben sitzt ein Hund

Im Ersten Weltkrieg suchten Hunde die Kampffelder nach Verwundeten ab. Ausgebildet wurden die Hunde vom Deutschen Verein für Sanitätshunde. Bereits während des Krieges setzte sich dessen Vorsitzender, Geheimrat Dr. Gerhard Stalling, für die systematische Ausbildung von Hunden ein. Denn: Der Bedarf an "Blindenführern" war riesig. Allein durch den Einsatz von Giftgasen, Schussverletzungen und Explosionen verloren mehr als 3.000 Soldaten ihr Augenlicht auf dem Schlachtfeld. Das Bild zeigt den ersten Blindenführhund mit seinem Besitzer - dem blinden Soldaten Paul Feyen. Nach dem Krieg profitierten immer mehr blinde Zivilisten von den "Rettern auf vier Pfoten".

Stand: 15.09.2016, 00:00

(c) http://www1.wdr.de/wissen/mensch/blindenhund-100.html